Ein Text den ich nie schreiben wollte

Ich wollte diesen Text nie schreiben. Weil ich glaubte, das alles gut verkraftet zu haben und weil ich mir nicht mehr die Frage stellen wollte: Mama, warum bist du schizophren?

Vor nicht allzulanger Zeit stieß ich zufällig auf ein altes Arbeitszeugnis von dir. Ich würde nicht behaupten, dass ich ein Mensch bin, der nah am Wasser gebaut ist. Aber in diesem Moment zog sich mein ganzer Körper zusammen, ich weinte wie ein Schlosshund und kauerte auf dem kalten Kellerboden (sorry für das Melodramatische, aber es war in der Tat ein trauriger Moment).

Deine Arbeitszeugnisse bestanden aus sämtlichen lobenden Prädikaten, heute gehst du nicht mehr arbeiten. Weil du heute nicht mehr kannst.

Das Schlimmste damals war nicht, dass du eines Abends im Schlafzimmer standest und deine besten Kleider anzogst, weil du dachtest, du würdest in dieser Nacht sterben. Dass du sagtest, du könntest mich nicht in den Arm nehmen, weil ich sonst auch sterben würde. Dass du weinend dasaßt und verzweifelt betetest, weil wir das alte Brot nicht gegessen, sondern weggeschmissen und damit gesündigt hatten. Oder dass du diesen irren Blick im Gesicht hattest.

Was mir wirklich zu schaffen machte, war mein Unverständnis. Zwar hat all das heute einen Namen, ich kenne die Diagnose. Manche nennen es eine Psychose, andere Schizophrenie. Aber niemand hätte mir mit meinen zehn Jahren erklären können, was damals in dir vor sich ging. Und es hat ja auch keiner versucht.

Du hattest Glück, dass dich so viele Menschen unterstützten. ,,Du musst jetzt ganz lieb zu deiner Mama sein.“ Diesen Satz habe ich 1000 Mal gehört. Ich gab mein Bestes, wirklich. Damals kannte ich diese Wörter wahrscheinlich nicht, aber es war einfach alles so skurril, surreal, unwirklich. Der wichtigste Mensch meines Lebens war am Durchdrehen und ich war so.unfassbar.allein.

Ich bin dir nicht böse. Denn du warst die letzte, die mir in diesen Momenten hätte helfen können. Und auch all die anderen Menschen in meinem Umfeld handelten so, weil sie es nicht besser wussten.

Dennoch macht sich eine Form von Wut und Unverständnis breit. Und Mitgefühl, für all die Kinder mit psychisch kranken Eltern, die ,,stark sein sollen“, während ihnen niemand erklärt, was los ist, warum diese Welt, die Eltern für ihre Kinder nun mal sind, auf einmal zusammenbricht.

Heute bin ich erwachsen. Und dennoch macht mir diese Krankheit immer noch Angst, wie ein Monster, das unter meinem Bett wohnt. Ich fürchte mich davor, dass diese Krankheit auch mich einmal überfallen könnte.

Dass ich heute unter einer  Angststörung leide, lässt sich wohl auch mithilfe meiner psychiatrischen Familienanamnese erklären. Aber Panikattacken sind nichts gegen den Wahnsinn und den Horror, den man wohl während einem psychotischen Schub in sich trägt. Und ich weiß, dass diese ekligen Gene in mir sind, wie ein Virus, der ständig ausbrechen kann.

In ein paar Jahren muss ich zu meiner ersten Mammographie, weil es der liebe Gott bei uns nicht nur mit psychischen Erkrankungen, sondern auch mit dem Krebs sehr gut gemeint hat. Da wird sich gekümmert. Ist ja schließlich genetisch vererbbar, ne richtige Krankheit, nicht bloß sowas im Kopf.

Doch vor zehn Jahren habe ich jegliche Angst vor körperlichen Krankheiten, Unfällen oder Ähnlichem verloren. Für mich schlummert das Böse nicht in den Zellen meiner Brüste, sondern in den Synapsen meines unergründlichen Hirns.

Und ja, ich frage mich auch noch mit 21 Jahren: Mama, warum bist du schizophren? Denn wenn mich die Erinnerung daran überfällt, dann werde ich wieder ganz klein, genauso ahnungslos und hilflos wie damals, auf der Suche nach Halt und Erklärungen.  Ich habe wegen meinen Ängsten schon viele Kompromisse gemacht. Aber ein Leben in ständiger Sorge darum, wieder wahnsinnig zu werden, ohne Arbeit, ohne Erfolg, das wäre für mich kein Leben mehr. Ein zu großer Kompromiss. Ob ich wohl auch mal eine Tochter haben werde, die heulend vor meinen Zeugnissen sitzt? Ich hoffe nicht.

 

 

 

 

6 Kommentare zu „Ein Text den ich nie schreiben wollte

  1. Dein Beitrag hat mich gerade sehr stark berührt … Als Tochter eines psychisch kranken Vaters, der wiederum selbst Sohn einer psychischen kranken Mutter ist, kann ich mich in einigen deiner Gedanken und Gefühle wiederfinden, auch wenn es bei uns in der Familie andere Diagnosen waren/sind.
    Ich wünsche dir, aber auch deiner Mama viel Kraft und alles Liebe dass du irgendwann frei werden kannst von dieser schrecklichen Angst vor möglichen Auswirkungen der Genetik auf die eigene Zukunft. Ich würde mir wünschen, dass Kinder psychisch kranker Eltern generell mehr Unterstützung und Hilfestellungen bekommen.

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  2. Ich verstehe auch erst jetzt im Erwachsenenalter, was meine Eltern früher erleben mussten. Mein Vater hat eine Zwangsstörung und meine Mutter depressive Züge. Darüber geredet wurde nie, alles totgeschwiegen, weil man ja das arme Kind nicht belasten wollte. Allerdings war das Schweigen noch eine viel größere Last sowie all die verletzenden Handlungsweisen und Erwartungen, die an mich gestellt worden sind. Ein Kind braucht in diesen Momenten Hilfe von außen. Eine Person, die es auffängt und unterstützt. Vor allem sollte es noch weiterhin Kind sein dürfen!

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  3. Ein so unglaublich bewegender Text. Ich wünschte, ich hätte die richtigen Worte, um dir zu schreiben, wie sehr mir alles, was du und deine Familien durchmachen mussten und müssen, leid tut…

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  4. Ich denke, dass wichtigste ist, sich nicht in seinen Ängsten zu verlieren. Es ist gut und wichtig, sich darüber im Klaren zu sein und über sie zu reflektieren. Aber lass dich nicht unterkriegen, bitte.

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